Benjamin Bergmann
Phantom
Ideen und Inspiration zu einem neuen Werk fallen nicht vom Himmel. Sie biegen auch nicht um die nächste Ecke oder springen mich aus einem Hinterhalt unvermittelt an. Schon eher ist es eine Mischung aus Zufall und der Lust, mich - wann immer ich dazu in der Lage bin - mit wachen Augen durch das tägliche Leben zu bewegen.
Mit Gewissheit lässt sich festhalten, dass es Bilder sind, die einen nachhaltigen Einfluss auf ein neues Werk nehmen. Bilder von der Welt, unserer Welt, der Natur, den Dingen, Dörfern, Städten und dem Leben. Abbilder von und über uns Menschen, die für mich, in meiner ganz persönlichen Wahrnehmung aus dem Gewöhnlichen ausbrechen; sonderbar, verwirrend, irritierend sind und in dieser Weise nachhaltig wirken. Sie regen mich zum Denken und Nachdenken an. Sie werfen in mir Fragen auf. Je größer die Frage, je schwerer eine mögliche Antwort zu finden ist, desto besser das Bild.
Im Sinne eines Wettstreits hat wohl dann das Bild gewonnen, auf dessen Frage es keine Antwort, sondern womöglich nur noch mehr Fragen gibt. Diese Bilder sammle ich, lege sie in kleine Kisten und - seitdem es Computer gibt - auch in digitalen Ordnern ab. Die Ordner bekommen unterschiedliche Namen. Namen, um sie inhaltlich zu sortieren oder auch um die Bildersammlungen zeitlich und örtlich voneinander zu trennen. Offen gestanden absolut unsystematisch, chaotisch und doch irgendwie hilfreich.
Mit solchen Sammlungen stehe ich selbstverständlich nicht allein. Unzählige, womöglich alle KünstlerInnen, verfügen über ein solches Archiv aus Fotos, Zeitungsausschnitten, Texten, Songs und vielem mehr. Eine der bekanntesten Sammlungen in Bildform, die das Leben eines Künstlers konsequent begleitet und auf mich wie ein Tagebuch wirkt, ist „Atlas“ von Gerhard Richter.
In der Ausstellung „Phantom“ präsentiere ich anlässlich des zehnjährigen Bestehens des apartment der kunst einen Teil meines persönlichen Archivs in Form einer Raumcollage aus schwarzweißen und farbigen Bildern.
Phantom ist die unwirkliche Erscheinung, das beängstigend Unbekannte, die Sinnestäuschung und das Trugbild. Das Ausstellungsprojekt “Phantom“ vereint Themen und Eigenschaften, die sich mit meinem gedanklichen Kosmos überlagern und so auch in meinen Werk (zumindest einem wesentlichen Teil davon) eine wichtige Rolle einnehmen. Bilder, die von Schönheit und einer Poesie der Abwesenheit erzählen. Ereignisse, die aufgeladen sind von einer absurden und verführerischen Ästhetik des Verfalls und der Vergänglichkeit. Bilder aus Licht und Schatten, die von Fehlern und vom Scheitern handeln, der Täuschung der Sinne und den vielen Dingen, die sich verflüchtigen und nicht zu greifen sind.
Anders jedoch als bei Gerhard Richter‘s Atlas ist die von mir präsentierte Sammlung Archiv und Täuschung zugleich. Denn Bilder, die ich über Jahre gesammelt habe, sind in „Phantom“ vermischt mit den Fundstücken einer schnellen und oberflächlichen Recherche im Internet. Einiges entspricht dem Geschehnissen und der Wirklichkeit, manches ist gestellt, digital manipuliert und der Realität entrissen.Welches Bild also tatsächlich meinem persönlichen Kosmos beziehungsweise meiner mich beflügelnden Sammlung entstammt und welche Bilder der Suche nach Schlagworten und Phänomenen im Internet geschuldet ist, wird zum Rätsel für die BetrachterInnen. Mein augenscheinlich gegebenes Versprechen, Einblick in die Entstehung und Motivation für ein neues Kunstwerk zu geben erweist sich als falsch. „Phantom“ ist Erkenntnis und „Phantom“ ist Trugbild zugleich.
Die Umsetzung meines Vorhabens im apartment der kunst ist mir immer noch nicht klar vor Augen. Ich hab wohl eine Ahnung davon und den einen oder anderen Versuch unternommen. Vieles ergibt sich in eben diesem Moment (beim Nachdenken und Schreiben) und wird sich dann zeigen, im apartment für kunst.
Benjamin Bergmann, im August 2023